Kanzel Culture

Dieter Nuhr wurde in Wesel am Niederrhein geboren, 35 Jahre bevor ich in diese Stadt zog und sie für acht sehr lebensformende Jahre meine Heimat nannte. Diese minimale Übereinstimmung unserer Biografien reichte in meiner Jugend dafür, einen gewissen kumpelhaften Lokalstolz auf diesen Typen zu entwickeln, der in der zweiten Hälfte der 90er Teil es Privatfernsehen-Comedy-Programms wurde, das wir auf gebrauchte VHS-Kassetten aufnahmen, weil es abends lief, wenn wir schon im Bett liegen mussten. Ich habe also eine lange persönliche Verbindung zu Nuhr, und man kann mir definitiv nicht unterstellen ihn immer schon abgelehnt zu haben. Ich gucke fast kein lineares Fernsehen mehr, Comedy/Kabarett/Satire sind mir egal. Kurz: An den meisten Tagen im Jahr ist Dieter Nuhr mir egal

In der vergangenen Woche aber ist Nuhr in meine Lebenswelt eingedrungen, und deswegen muss ich jetzt doch über ihn nachdenken. Nuhr ist oder war Testimonial für die Deutsche Forschungsgemeinschaft, und weil sich eigentlich niemand für die DFG interessiert, wurde das erst bemerkt, als sie es auch twitterte:

Darauf kamen Reaktionen über die gleich noch zu sprechen sein wird, und einen Tag später nahm die DFG das Video ohne weitere Erklärung offline:

Und jetzt haben wir den Salat: Die DFG steht dumm da, Nuhr beklagt “Cancel Culture”, eher Linke und viele Wissenschaftler:innen fragen sich was die DFG da geritten hat und eher Rechte sehen einen weiteren Beleg für, je nach Geschmacksrichtung, linke Meinungshegemonie oder linksgrüne Gedankenpolizei.

Was ist das Problem?

Das vielerorts artikulierte Problem daran, Dieter Nuhr zu einem Sprecher für die Öffentlichkeitsarbeit der DFG zu machen, ist die jüngere Geschichte von Nuhr-Äußerungen. Viele davon sind bereits durchgekaut und sorgfältig bearbeitet. Nuhr selbst sagt, ihn würde an Fridays for Future das Quasi-Religiöse stören:

Das kann man Kindern und Jugendlichen nicht vorwerfen, aber den Erwachsenen schon. Dieses «Folgt der Wissenschaft», so als gäbe es nur eine Wahrheit, ist für mich die grösste Naivität, die ich Greta Thunberg und ihren Jüngern ankreiden würde. Das ist Erlösungsdenken, und Erlösungsdenken ist immer ein Ziel meines Humors gewesen.

Es ist nur ein kleiner Unterschied, aber hier zitiert Nuhr falsch: Greta Thunberg sagt nicht “Follow the Science”, sondern “Listen to the Science”. Das ist nicht auf Nuhrs Mist gewachsen, soweit ich das überblicken kann wird sie in dieser Hinsicht oft falsch zitiert, so wie hier. Das offizielle Protokoll ihrer kurzen Wortmeldung hingegen sagt eindeutig “Listen”.

Das mag minimal erscheinen, hat aber große Auswirkungen. “Follow” suggeriert natürlich eine quasi-messianische Herangehensweise, ein Jüngertum, Wissenschaft als Klima-Jesus. “Listen to” ist hingegen in jeder Hinsicht eine rationale Aufforderung.

Aber auch von diesem Fehler abgesehen offenbart es ein problematisches Wissenschaftsverständnis bei Nuhr: Aus der Aufforderung, der Wissenschaft zu folgen/zuzuhören erkennt er eine Vorstellung, es gäbe “die eine Wahrheit”. Die These, Fridays for Future würde “die eine Wahrheit” vertreten wollen kann aber nur auf zwei Wegen erfüllt sein:

  1. Fridays for Future postuliert selbst eine Position zu Klimawandel und Klimawandelpolitik als “die eine Wahrheit”
  2. Die Wissenschaft behauptet, ihr Forschungsstand sei “die eine Wahrheit”

Beides trifft allerdings nicht zu. Zu 1) haben wir schon besprochen, dass bspw. Greta Thunberg vor einem US-Kongressausschuss kein eigenes Statement vorliest, sondern einen Forschungsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change vorlegt. Insofern müsste Nuhr, aller Logik halber, ja 2) zustimmen. Das wäre allerdings eine Position zu Wissenschaft, die eine Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht mit einer zehn Meter Kneifzange anfassen wollen sollte, weil sie allem widerspricht, was moderne Wissenschaft ist.

Es gibt noch eine zweite aktuelle Quelle zu Nuhrs Wissenschaftsverständnis, in er er sich am Robert-Koch-Institut abarbeitet:

Natürlich ist es reines Gold für einen Komiker, wenn erste vorläufige Daten zeigen, dass Raucher:innen seltener an Covid-19 sterben; es entspricht nach Jahrzehnten der Warnung vor dem Tabakkonsum nicht unserer Erwartung, daraus kann man eine schöne Pointe bauen. Was das mit Wissenschaft zu tun hat (außer dass Wissenschaft uns diese vorläufige Erkenntnis gebracht hat), bleibt offen. Aber wir sind hier ja auch nicht in einem peer reviewed paper. In der Folge arbeitet sich Nuhr aber am RKI ab und behauptet, dort würden Zahlen zur Sterblichkeit genannt die ohne repräsentative Tests gar nicht erhebbar wären. Das Problem: Das RKI hat nie behauptet, sämtliche, auch asymptomatischen Erkrankungen erfasst zu haben. Es kann nur auf der Grundlage der Daten arbeiten die es hat, tut das und kommuniziert es anschließend. Dabei hat es mit Sicherheit Fehler gemacht, die es aufzuarbeiten gilt. Für absichtliche Irreführungen bleibt Nuhr aber auch nur andeutungsweise Belege schuldig, ebenso dafür, dass das RKI am Anfang vom Gebrauch von Gesichtsmasken abgeraten hätte, weil es nicht genug davon gab.

Cancel Culture?

Wie ich schon oben schrieb haben wir jetzt aber den Salat. Dieter Nuhr hat sich auf seiner Facebook-Seite geäußert, und es lohnt sich, auch dieses Statement genauer zu lesen. Er erklärt dort kurz wie er angefragt wurde, dass die DFG sich über seinen Beitrag freute, und was er dort gesagt hat (dass ich darauf nicht tiefer eingehe liegt einzig und allein daran, dass an an diesem Statement überhaupt nichts auszusetzen gibt).

Dass Kritik aufkommt, wenn ich mich äußere, erstaunt mich nicht weiter. Egal, was ich sage, sobald es im Netz öffentlich wird, gibt es organisierten Hass. Das ist offensichtlich eine im Netzwerk organisierte Kampagne, die mich als an der Meinungsbildung Beteiligten diskreditieren soll.

Das ist ein bemerkenswerter rhetorischer Kniff: In Satz 1 ist noch von “Kritik” die Rede, direkt darauf wird diese aber gleichgesetzt mit “organisierte[m] Hass”. Eine solche Denke macht aus jeder Gegenrede einen Shitstorm, aus jeder Missfallensbekundung ein Paradebeispiel für Cancel Culture. Wer das weiter durchdenkt könnte fast meinen, Dieter Nuhr möchte die Meinungsfreiheit abschaffen: Wer sein Missfallen über Nuhrs Arbeit ausdrückt, hasst und diskreditiert.

Ich kann dazu nur sagen: Ich habe auf Twitter auch Kritik daran geäußert, wie viele andere meiner Kolleg:innen aus der Wissenschaft, und ich kann für mich mit Sicherheit sagen dass mir Hass auf Nuhr fremd ist und dass ich definitiv nicht organisiert war. Ich habe einfach nur auf meinem Heimspielfeld (Wissenschaft) einen Missstand gesehen und artikuliert. Die übrigen Tweets die ich dazu sah sahen genauso aus. Es folgen rein zufällig ausgewählte Beispiele von organisiertem Hass:

Nun möchte ich natürlich nicht behaupten, dass es keine unflätigen, beleidigenden, niveaulosen und unnötigen Tweets zur Angelegenheit gab. Die gibt es aber auf Twitter immer. Ich selbst habe es mir zur Angewohnheit gemacht meine eigenen Tweets über einer gewissen Reichweitenschwelle stummzuschalten, weil irgendwann die Trolle und Wütenden ganz unweigerlich kommen. Durch Twitters Vollöffentlichkeit und niedrige Publikationsschwelle ist es zu einer Art Globalarchiv für sämtliche möglichen menschlichen Gedanken geworden. Für jede noch so absurde Meinung wird sich in der Twittersuche ein Beleg finden.

Tatsächlich blieben die Kommentare unter dem DFG-Tweet aber deutlich zivilisierter als ich zunächst erwartet hatte. Insbesondere am Anfang meldeten sich fast ausschließlich Wissenschaftler:innen, die dem DFG-Account selbst folgten. Von “Krawallmachern” und “Denunziatoren”, die Nuhr beklagt, war dort zunächst einmal nichts zu entdecken.

Aber es wäre natürlich für Nuhr und seine Verteidiger:innen auch deutlich schwieriger, lästiger, komplizierter, sich auf die seriösen Stimmen einzulassen, mit ihnen zu diskutieren, sich auf ihre Argumente einzulassen – den “Gegner” also ernstzunehmen, das, was Nuhr für sich selbst ja einfordert. Es ist deutlich einfacher auch die Universitätsprofessor:innen, die Menschen aus der Wissenschaftskommunikation, auch Journalist:innen, die kritische Einwände hatten, undifferenziert als “Mob” zu bezeichnen. Mit einem Mob spricht man nicht, klar. Die Methode hat Nuhr nicht erfunden, er nutzt sie allerdings schon länger – schon vor fünf Jahren hat er Jan Böhmermanns kritisch-polemische Rückfragen auf seiner Facebook-Seite gecancelt.

Querdenkerei

Nuhr, so scheint es, ist prominentester Vertreter einer Geistesschule, die oft ebenso unfair und undifferenziert als “alter weißer Mann” abqualifiziert wird: Er sieht sich als Querdenker in einer uniform “linken” Welt. Das mag an seiner Lebensrealität liegen, tatsächlich ist das Mediengeschäft in Deutschland tendenziell etwas linker als die Gesamtbevölkerung, aus den unterschiedlichsten, selten kalkulierten Gründen. Nuhrs Trugschluss: Aus diesem Grund glaubt er, seine geäußerten Meinungen würden diesem “Zeitgeist oft widerstehen oder sich ihm widersetzen“. Explizit sieht er sich damit als Gegenpol zu Jan Böhmermann, denn dessen Witze “Witze exakt dem politischen Zeitgeist entsprechend”.

Das Problem: Dieter Nuhr ist in Deutschland viel zustimmungsfähiger als Jan Böhmermann. Das erkennt man schon an den Shitstorms, die beide Komiker bisher abbekommen haben. Wie würde Nuhr sich wohl äußern, wenn er von einem prominenten Österreicher als “dummes Hurenkind” und sein verstorbener Vater als Pädophiler bezeichnet würde?

Nuhr sagt von sich, er sei 1980 Gründungsmitglied der Grünen gewesen, heute sei er “nicht zuzuordnen”. Damit ist er Frank Plasberg ähnlich, einem dieser anderen Medienmenschen die sich wahrscheinlich ohne feste Loyalitäten irgendwie selbst für links halten und regelmäßig daran verzweifeln dass die übrigen Linken nicht sehen wollen dass die Rechten eigentlich recht haben.

Die Peinlichkeit

Aber was hilft das ganze Abschweifen? Die Fronten sind ja geklärt, und ein Wesenselement von Sozialen Medien ist, dass sich jeder Mensch aussuchen kann, auf welcher Seite er oder sie nun Opfer sein will. Opfergefühle sind immer am einfachsten, wenn man gar kein wirkliches Opfer ist. Keiner kann einem was, und wenn doch, ruft man “Mob!”.

Das eigentliche Thema muss die DFG sein. Sie hat Nuhr angefragt, sie hat Nuhr abgenommen, sie hat Nuhr veröffentlicht, sie hat Nuhr auf den sozialen Netzwerken beworben und sie hat nach ein paar Stunden kritischem Gegenwind beschlossen, ohne weitere Erklärungen eine Kehrtwende zu vollziehen. Das alles spricht nicht für besonders viel Denkaufwand, es spricht für wenig Souveränität und für einen bemerkenswerten Mangel an Einfühlungsvermögen in die verschiedenen Arten, auf denen im Jahr 2020 in Deutschland Sachverhalte ausverhandelt werden.

Man könnte auch ganz grundsätzlich die Frage stellen, warum die DFG selbst solch eine aufwändige und mit Sicherheit nicht billige Öffentlichkeitsarbeitskampagne braucht, wenn ihr Satzungszweck eigentlich vollständig uneigennützig ist:

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft dient der Wissenschaft in allen ihren Zweigen durch die finanzielle Unterstützung von Forschungsarbeiten und durch die Förderung der nationalen und internationalen Zusammenarbeit der Forscherinnen und Forscher. Der Förderung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses gilt ihre besondere Aufmerksamkeit. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert die Gleichstellung der Geschlechter in der Wissenschaft. Sie berät Parlamente und im öffentlichen Interesse tätige Einrichtungen in wissenschaftlichen Fragen und pflegt die Verbindungen der Forschung zu Gesellschaft und Wirtschaft.

Kaum jemand, der in der Wissenschaft arbeitet, mag die DFG. Sie vergibt in oft hochkomplizierten und langwierigen Verfahren viel Geld für Forschungsprojekte, und das ergibt zwangsläufig auch viele mit großem Aufwand verbundene Absagen. Die DFG hat auch das Thema Wissenschaftskommunikation sehr lange verschlafen. Ihre Reaktion scheint zu sein, sich selbst als Kommunikationsstelle zu platzieren, anstatt größere Förderungen für die Vermittlungsarbeit genau ort anzusetzen, wo die Forschung geschieht: bei den jeweiligen Wissenschaftler:innen. Bis es soweit kommt, müssen vielleicht noch ein paar Peinlichkeiten ins Land ziehen.

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Like I’ve been there before: Was “Friends” über die Migration in die USA erzählt

Vor gut neun Jahren lief in den USA die letzte von 236 Folgen der überaus erfolgreichen Comedy-Serie “Friends”. Und weil die Sendung in den 90ern zusammen mit “Seinfeld” Maßstäbe für erfolgreiche Fernsehproduktionen setzte, gab es immer wieder Gerüchte um Neuauflagen, die zunehmend deutlicher dementiert wurden. Es ist wohl eindeutig: Spätestens mit dem gescheiterten Versuch des Spin Offs “Joey” (dessen Hauptdarsteller Matt LeBlanc mittlerweile sich selbst in “Episodes” brillant spielt) war die Möglichkeit einer Neuauflage dahin.

“Friends” muss sicher niemandem besonders vorgestellt werden, daher nur das Wichtigste: Die Serie handelt von sechs Freunden in New York ((die teilweise klar definierten Orten wohnen, die Anschriften sind leicht herauszufinden und beliebter Anlaufpunkt für Touristen)), die da wären: Monica und Ross Geller (Geschwister), Chandler Bing, Joey Tribbiani, Rachel Green und Phoebe Buffay. Die um sie kreisenden Geschichten sind in erster Linie gutes Comedy-Handwerk, aber darum geht es heute nicht. Keiner der Charaktere weist eine Abstammung von amerikanischen Ureinwohnern auf ((was meines Wissens nach eine echte Neuerung im US-TV gewesen wäre)), woraus folgt, dass alle einen, verschieden weit zurückliegenden, Migrationshintergrund aufweisen. Und dieser fügt sich ein in das traditionelle amerikanische Einwanderer-Narrativ.

Monica und Ross Geller sind, das betont die Serie häufiger, zum Teil jüdischer Abstammung, ihr Vater Jack Geller ist Jude. Das macht sie nicht automatisch selbst zu Juden, nach weitverbreiteter Praxis ist ein Kind jüdisch, wenn es von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Da aber zumindest Monica ihre Bat Mizva erwähnt, ist davon auszugehen, dass die Kinder jüdisch erzogen wurden – zudem möchte Ross im Verlauf der Serie seinem Sohn Ben, der bei seiner christlich geprägten Mutter aufwächst, das Fest Hannukah näherbringen. Die Gellers repräsentieren dabei einen gemäßigt säkularen Zweig des US-amerikanischen Judentums, sie feiern Weihnachten am 25. Dezember und Neujahr am 1. Januar und pflegen eine gewisse emotionale Nähe zum Staat Israel. ((“This calls for a bottle of Israel’s finest” – Einige orthodoxe Strömungen des Judentums lehnen die ohne göttlichen Eingriff vollzogene Rückkehr nach Israel strikt ab.))
Über die Familiengeschichte der Gellers wird nicht viel erzählt, allerdings lassen sich einige Vermutungen in Hinblick auf den historischen Gesamtkontext anstellen. Der Name “Geller” leitet sich aus mehreren Ursprüngen ab: Dem deutschen Verb “Gellen” (Rufen), womit der Name auf die Tätigkeit eines Marktschreiers zurückgeht sowie die jiddischen Wörter “yel” für “Gelb” und “geler” für “Rothaariger”. Die Verteilung lässt sich bis heute nachvollziehen: Während das deutsche “Geller” vor allem in Hessen und dem Rhein-Eifel-Gebiet prominent ist, findet sich die jiddische (und damit meist osteuropäische) Variante in Berlin und dem Oder-Spree-Kreis.
Damit ist es höchstwahrscheinlich, dass die Vorfahren der Gellers zwischen 1840 und 1880 in den USA ankamen – zu dieser Zeit erlebten die Vereinigten Staaten ihre erste Welle jüdischer Masseneinwanderung, hauptsächlich aus deutschsprachigen Gebieten. Erst danach, etwa ab 1890, begann die zweite, viel größere Welle der Einwanderung osteuropäischer Juden, die das bis heute gängige popkulturelle Stereotyp des Juden mit einem “-witz” als Familiennamensende begründete. Diese Juden kamen, wie fast alle Migranten, zunächst in New York an Land, und während viele Einwanderer sofort oder zumindest bald weiterzogen, konnten die Juden auf ein existierendes Netzwerk aufbauen und blieben größtenteils in ihrer Ankunftstadt. Dort konnten sie oft von früheren jüdischen Einwanderern Englisch lernen und erste Arbeitstellen erhalten, um später beruflich in gewissem Rahmen aufzusteigen. Vorwiegend geschah dies im Textilgewerbe. ((Das Textilgewerbe boomte nicht zuletzt dank des US-Bürgerkrieges)) Aufgrund dieser Starthilfe gelang es jüdischen Einwanderern generell leichter als vielen anderen Armutsflüchtlingen, sozial aufzusteigen. Bemerkenswert daran ist, dass dies nur in minimalen Ausmaßen zu antisemitischen Vorfällen und Meinungsbildern führte, die in Europa in einer solchen Situation fast zwangsläufig gewesen wären.

Über Phoebe Buffays Herkunft ist so gut wie nichts bekannt, es ist natürlich anzunehmen, dass der Name “Buffay” aus dem Französischen stammt und aus einem “et” oder “é” in der (oft eher ruppigen) Übertragung bei der Einwanderung ein “ay” gemacht wurde.

Ähnliches gilt für Rachel Green, deren Figur zwar als Klischee der “Jewish-American princess” angelegt wurde, ansonsten aber überhaupt keine Hinweise auf ihre Herkunft zulässt.

Über die Herkunft eines Familienzweiges von Chandler Bing gibt die Serie eine präzise Information preis: Nach Eigenaussage ist er “part scottish”. Mehr allerdings wissen wir über ihn in dieser Hinsicht nicht. Schotten waren unter den ersten dauerhaften Siedlern in Nordamerika ((Angeblich waren sogar unter den ersten europäischen Entdeckern Nordamerikas im 10. Jahrhundert Schotten)), viele US-Präsidenten ((angeblich mindestens 23, wobei hier auch entfernte Verwandtschaftsverhältnisse gezählt werden)) haben schottische Vorfahren. Der Name Bing lässt keine weiteren Spekulationen zu.

Der offensichtlichste Migrationshintergrund der sechs Hauptfiguren wird bei Joey Tribbiani offenbar. Joeys Großmutter kam in ihrer Jugendzeit aus Neapel nach New York und spricht bis zur Seriengegenwart nicht Englisch. Dies entspricht dem gängigen Klischee und zum Teil auch dem historischen Gesamtbild: Der Großteil der Italo-Amerikaner kam zwischen 1880 und 1921 in die USA, zu mehr als 80% aus den südlichen Provinzen, zu denen auch Kampanien und somit Neapel gehört.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Migranten hatten viele Italiener nicht vor, in den USA zu bleiben: Je nach Befragungsort gaben zwischen 10 und 90% der Einwanderer an, eine Rückkehr nach Italien zu planen. Deshalb blieben sie größtenteils in den Städten – ein Farmerleben vertrug sich in keiner Weise mit dem temporären Charakter des Aufenthaltes. Schnell entstand der Ruf, dass die Italiener zwar kein größeres Interesse an einer Amerikanisierung ihres Lebens hätten, aber gewillt seien, auch harte Arbeit zu erledigen. Die Männer waren daher zum größten Teil Bauarbeiter und Handwerker, während die Frauen in den schon zuvor erwähnten Textilfabriken angestellt wurden. Weil diese Arbeiten schlecht bezahlt waren, siedelten sich italienische Einwanderer oft in alten, unattraktiv gewordenen Stadtteilen an, die schnell zu “Little Italys” wurden. Aufgrund dieser klar abgegrenzten Enklaven entstand, insbesondere für die Frauen der ersten Einwanderergeneration, kaum Handlungsdruck, sich über den Erwerb der englischen Sprache zu integrieren.
Erst die zweite und dritte Generation schaffte daher den Sprung aus der untersten Beschäftigungsschicht in den unteren Mittelstand, wobei die Familientraditionen, insbesondere in Namensgebung und Katholizismus, meist beibehalten wurden. In Joeys Familie ist das ablesbar: Nicht nur, dass die Familie jedes Weihnachtsfest zusammen feiert und Joey zumindest für seine Schwestern ein traditionell-katholisches Familien- und Lebensbild einfordert, seine Schwestern haben zumindest zum Teil auch typisch amerikanisierte italienische Namen: Mary Therese, Mary Angela, Dina, Gina, Tina, Veronica. Die Familie wohnt in Queens in einem typischen Mittelklasse-Haus; die Vermutung liegt nahe, dass es in Howard Beach liegt, einem Stadtteil mit traditionell hohem Anteil italienischer Ahnenschaft. Joeys Vater ist Klempner, was als Bindeglied zwischen der unteren, unausgebildeten Arbeiterschicht der ersten Generation und der Mittelklasse-Existenz der dritten Generation gelten kann.

Ziel dieses Posts ist weder, jede einzelne, vielleicht auch nur als Witz konzipierte Information der Serie zu einem weitreichenden Fakt auszubauen oder eine umfassende Geschichte der US-Einwanderung zu liefern – vielmehr sollte es ein Experiment sein, wieviel an Information auch ohne den ausdrücklichen Auftrag der Drehbuchschreiber, eine historische Serie zu schreiben, in einer solchen Handlung und ihren Charakteren steckt. In den USA wird die Herkunft traditionell für die eigene Identitätszuschreibung verwendet, über Prominente weiß man oft bis in die 8. Generation die Herkunft aller Vorfahren. Amerikaner, wie sie amerikanischer kaum sein könnten, stellen sich mit der Information vor, dass ihre Vorfahren um 1850 aus der Pfalz eingewandert seien, in gewissen Kreisen ist es der unkäufliche Ritterschlag, wenn man sich bis auf die Pilgerväter zurückverfolgen kann. Dass dieses Beispiel aus “Friends” gewählt wurde liegt einzig und allein daran, dass ich keine andere Serie besser kenne. Andere Kandidaten, die mir dazu einfallen würden, wären “Die Simpsons” oder “The Wire”. Insbesondere bei letzterem wird viel mit Namen und Herkünften gespielt, wobei dies natürlich in erster Linie die weiße Bevölkerung betrifft. Dazu vielleicht irgendwann mehr.

[Falls ich Informationen, die in den 10 Staffeln erwähnt wurden, vergessen habe, freue ich mich sehr über einen Hinweis und werde sie nachträglich einarbeiten.]

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