Kram

Jahressampler 2018

Seit 2001 erstelle ich irgendwann rund um die Weihnachtstage meinen Jahressampler mit den besten Songs des vergangenen Jahres. Es gelten dabei die üblichen Regeln: Maßgeblich ist das Ersterscheinen (ich trickse manchmal etwas und nehme das Ersterscheinen nach Erstellung des Letztjahressamplers), von jeder Band nur ein Lied. Früher™ war das einfach, da habe ich eh jeden Tag so unfassbar viel Musik gehört dass ich den Sampler am Ende des Jahres so aus dem Ärmel schütteln konnte. Dann fand ich ziemlich viel neue Musik eine ganze Zeit lang ziemlich langweilig, dann kamen Job und Kinder und die Ressourcen fürs aufmerksame Musikhören wurden spärlicher.

Dann kam meine Rettung: Der Spotify Release Radar. Jeden Freitag kommen ca. 15 bis 25 neuerschienene Songs in die Playlist, zugeschnitten auf das, was Spotifys Algorithmen für meinen Geschmack halten. Mal abgesehen von Doppelbandnamen (Miles waren nicht nur eine großartige deutsche Indiepopband, sondern ist offenbar auch ein Trap-Künstler [eine dieser neuen Musikrichtungen, die ich nicht verstehe {was okay ist}]), wochenlangen irrelevanten Live-Aufnahmen der Rolling Stones und schlechter B-Seiten-Remixe zum Füllen von Alben-Neuauflagen funktioniert das extrem gut: Bands die ich schon kenne und völlig neue Künstler halten sich ungefähr die Waage, jede Woche kommen dabei zwei bis fünf Lieder unter, die ich weiter hören möchte und die auf meine „2018 Notizen“-Playlist geschoben werden. Zugegeben, das klingt etwas nach Verwaltungsarbeit, beschert mir aber die schöne Lage, einen wundervollen Sampler zusammengestellt zu haben auf dem mehr Lieder in der 11-12/12-Punkte-Region sind als jemals in den letzten ca. zehn Jahren.

Rein subjektiv gesprochen war 2018 das Jahr, in dem 1:1 zurückkam: 2002 von Tocotronic in „Neues vom Trickser“ beendet, kommt das offene, nicht hinter Metaphern, Symbolismus und absichtlichem Nebel versteckte Moment in Texten wie Musik zurück. Verbunden ist das mit einer Kampfansage an die Angst vor der Peinlichkeit:

Ich drücke Pickel vor dem Spiegel aus
Manic Depression im Elternhaus
Ich gebe dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Tocotronic – Electric Guitar

Das äußert sich auch bei meinem persönlichen Album des Jahres, „Joy as an Act of Resistance“ von IDLES. Musikalisch findet die Band schon seit jeher immer die wundervolle Melodie im ungehobelten Lärm (Beispiel: Date Night vom Vorgängeralbum „Brutalism“), textlich versuchte sie sich bislang in kurzgeschichtenähnlichen Schlaglichtern. Auf „Joy as an Act of Resistance“ hingegen wird sich nicht mehr mit solchen literarischen Fisimatenten umgeben, hier wird gesagt, was gemeint ist:

My blood brother is an immigrant
A beautiful immigrant
My blood brother’s Freddie Mercury
A Nigerian mother of three
He’s made of bones, he’s made of blood
He’s made of flesh, he’s made of love
He’s made of you, he’s made of me
Unity!
IDLES – Danny Nedelko

Auf Textebene ist so etwas offensichtlich, aber auch musikalisch kann man die Angst vor der Peinlichkeit überwinden. Die hatten die Arkells aus Kanada ohnehin selten, eine Band, mit der mich seit zehn Jahren eine Hassliebe verbindet – niemand sonst oszilliert so hochfrequent zwischen großartiger Gitarrenmusik und dem schlimmsten, was öffentlich-rechtlicher Altherrenrock sein kann, hin und her. „Relentless“ von diesem Jahr passt da im Prinzip genau rein: Textzeilen wie „Relentless like a dog on a bone / We got gas in the tank to go all night long“ dürften zuletzt im Lyrikzimmer von Jon Bon Jovi für mehr als ungläubiges Kopfschütteln gereicht haben. Das Ganze hat aber eine hübsche Meta-Ebene: Bei 2:15, gerade nach der Bridge, direkt vor den Textzeilen „Take me back to ’96 / I fall asleep with the radio on“, zitieren die Gitarren der Arkells das unkredibelste aber wohl realistischste Stück Musik, mit dem man als Anfang-30er im Jahr 2018 auf 1996 zurückreferenzieren kann:

Macarena.

Ich könnte ewig so weitermachen, es sei nur Art Bruts „Wham! Bang! Pow! Let’s Rock Out!“ (der Titel schon!) genannt, eine (hoffentlich) selbstironische Hymne auf das Herausaltern aus Partys. Nun aber genug der Vorrede. Der Sampler ist, diesen Anachronismus gönne ich mir, in zwei CDs von maximal 74 Minuten Spiellänge geteilt, an den Übergängen habe ich Stunden gesessen, es ist eine Promenadenmischung von Pop bis Hardcore, von Art Brut bis Wintersleep:

CD 1:

CD 2:

CD 1 und 2:

Tracklist:
1 Henry Jamison – Gloria
2 Manchester Orchestra – Bad Things To Such Good People
3 Frankie Cosmos – Jesse
4 Eels – The Deconstruction
5 Tocotronic – Electric Guitar
6 The Get Up Kids – I’m Sorry
7 The Menzingers – Toy Soldier
8 IDLES – Danny Nedelko
9 Art Brut – Wham! Bang! Pow! Let’s Rock Out!
10 Arkells – Relentless
11 FONTAINES D.C. – Too Real
12 Shame – Concrete
13 Hot Snakes – Six Wave Hold-Down
14 Quicksand – Multiverse
15 Fu Manchu – Clone of the Universe
16 Modern Life Is War – Feels Like End Times
17 Converge – Permanent Blue
18 mewithoutYou – Julia (or, ‚Holy to the LORD‘ on the Bells of Horses)
19 Murder By Death – True Dark
20 Cursive – Life Savings

1 Tyler, The Creator – 435
2 Grandaddy – Bison on the Plains
3 Nas – Adam and Eve
4 KIDS SEE GHOSTS – Freeee (Ghost Town Pt. 2)
5 Santigold – Run the Road
6 Superorganism – Everybody Wants To Be Famous
7 Broken Bells – Shelter
8 Beach House – Drunk In LA
9 Wintersleep – Surrender
10 The Decemberists – Ben Franklin’s Song
11 Father John Misty – Hangout at the Gallows
12 Death Cab for Cutie – Gold Rush
13 Rolling Blackouts Coastal Fever – Talking Straight
14 Guided By Voices – Space Gun
15 Jeff Rosenstock – Yr Throat
16 Matt and Kim – Glad I Tried
17 Run The Jewels – Stay Gold feat. Gangsta Boo (Smiff & Cash Remix)
18 Kendrick Lamar – All The Stars (with SZA)
19 Childish Gambino – This Is America